Meinung

Die Trümpfe der ostdeutschen E-Autoindustrie

Sebastian Bock — 30. Mai 2025

Warum die Lösung der deutschen Auto-Krise fernab der alteingesessenen Standorte liegen könnte und warum es dabei auf die neuen Bundesminister Katherina Reiche und Carsten Schneider ankommt.

Gewinneinbrüche bei VW, Mercedes und BMW. Fast täglich kommen neue Hiobsbotschaften aus Wolfsburg, Stuttgart und München. Doch die Lösung der deutschen Auto-Krise könnte fernab dieser alteingesessenen Standorte liegen. Übersehen wird eine Region, die so voller Potential steckt, dass sie weltweit kaum ihresgleichen findet: Ostdeutschland.

Mit Katherina Reiche und Carsten Schneider könnte die Region zum ersten Mal gewichtige Fürsprecher in entscheidenden Ministerien haben, wenn sie in den kommenden Monaten gemeinsam mit dem Verkehrsministerium den richtigen Kurs einschlagen. Doch worum geht es genau?

Das Auto der Zukunft. Ostdeutschland ist exzellent für die Produktion von E-Autos aufgestellt.

Tausende neue, sichere Jobs könnten in der Region entstehen. Gleichzeitig könnte Ostdeutschland Europas Abhängigkeiten bei den Schlüsseltechnologien Halbleiter- und Batteriefertigung verringern.

Das ist keine Zukunftsmusik: obwohl nur knapp zehn Prozent der deutschen Autojobs in Ostdeutschland sind, wird schon heute fast jedes zweite E-Auto hier hergestellt. Wieviel Luft es hier noch nach oben gibt, zeigt erstmals eine neue Studie des Chemnitz Automotive Institute und automotive thüringen für T&E. Doch die Voraussetzung ist ein politischer Wille zur E-Mobilität, der nicht politisch oder zum Schutz kurzfristiger Gewinnabsichten der Industrie ausgebremst werden darf.

Weil das Auto der Zukunft andere Dinge können muss als die Fahrzeuge, die heute auf unseren Straßen fahren, ändern sich die Anforderungen an einen Automobilstandort. Ostdeutschland vereint die hierfür notwendigen Industrien auf engstem Raum. Vier stechen hervor:

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    Erstens: Die modernsten Werke zur Produktion von E-Autos von BMW, VW, Opel und Tesla stehen schon heute in Sachsen, Thüringen und Brandenburg. Unsere Zahlen zeigen: Hält die Politik jetzt Kurs und erlaubt ab 2035 nur noch emissionsfreie Fahrzeuge neu zuzulassen, könnten die Produktionszahlen von E-Autos in den ostdeutschen Werken um 140 Prozent steigen. So würden allein bei den Herstellern bis 2035 2.800 neue Jobs entstehen.

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    Zweitens: die Vision des Autos der Zukunft als “Smartphone-auf-Rädern” wird Realität. Damit steigt die Anzahl und Qualität der Halbleiter pro Fahrzeug. Schon heute ist der Wert der Chips in einem E-Auto mehr als doppelt so hoch, wie der in einem Verbrenner. Sachsen ist das Zentrum der europäischen Halbleiterindustrie und für ein Drittel der europäischen Chipproduktion verantwortlich. Mit deutschen Firmen wie Bosch und Infineon oder dem Weltmarktführer TSMC siedeln sich hier immer mehr Unternehmen an, deren Chips speziell für die Automobilindustrie gefertigt werden. Prognosen rechnen allein bis 2027 mit einem Zuwachs von 5.500 Arbeitsplätzen.

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    Drittens: Um die Hersteller hat sich ein großes Netzwerk von Zulieferern entwickelt. Auch wenn bestimmte Teile der Wertschöpfungskette beim E-Auto entfallen, zeigt die Studie, dass diese von anderen Bereichen überkompensiert werden können. So könnten bei ostdeutschen Zulieferern bis 2035 knapp 6.500 neue Arbeitsplätze entstehen. Dies gilt insbesondere für das neue Herzstück des Autos: was früher der fortschrittlichste Motor war, wird in Zukunft die innovativste Batterie sein. Die chemische Industrie blickt in Ostdeutschland auf eine lange Geschichte zurück. Unter anderem aus diesem Grund produzieren der weltweit größte Hersteller von Batterien CATL sowie Tesla bereits heute in der Region.

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    Viertens: Weil E-Autos keine schädlichen Klimagase mehr ausstoßen, rücken die Produktionssmissionen stärker in den Vordergrund. In keinem Bundesland ist der Anteil der erneuerbaren Energien an der Stromerzeugung so hoch wie in Mecklenburg-Vorpommern. Auf den Plätzen zwei und drei folgen Sachsen-Anhalt und Thüringen. Damit erzeugt Ostdeutschland bereits heute Stromüberschüsse aus erneuerbaren Energien, die oft mangels Übertragungskapazität abgeregelt werden. Die Kapazitäten zur Ansiedlung weiterer energieintensiver Industrien, wie der Automobil- oder Batteriefertigung, wären somit vorhanden.

Ostdeutschland hat die Chance, bei der größten Transformation in der Geschichte der Automobilindustrie eine führende Rolle zu spielen. Es können neue, zukunftssichere und gut bezahlte Arbeitsplätze geschaffen werden, die nicht nur Wertschöpfung in die Region holenIm Umkehrschluss gilt allerdings auch: rüttelt Deutschland an den EU-Emissionszielen, droht der Verlust von knapp 10.000 Jobs. Die neue Bundesregierung muss daher den schnellen Hochlauf der E-Mobilität zur Priorität erklären und sich in Brüssel jeder weiteren Abschwächung der Flottengrenzwerte entschlossen entgegenstellen. Mit dem rasanten Aufstieg von Chinas neuen Elektromarken und den digitalen Anforderungen an die Fahrzeuge der Zukunft, werden die Karten in der Automobilbranche gerade neu gemischt. Ostdeutschland hält hier gleich vier Trümpfe in der Hand. Jetzt gilt es, diese zu spielen.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der Berliner Zeitung am 29. Mai 2025.

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